Ausstellung

• Di 04 04 – Do 13 07 2017 •
Enigmatische Mehrheiten


mit ANNE ARNDT, CRISTINA LUCAS, FERHAT ÖZGÜR, ANAND PATWARDHAN, TOMÁŠ RAFA, CHULAYARNNON SIRIPHOL, XIAO KE xZI HAN


Die schweigende Mehrheit hat gesprochen – so würden es zumindest Populisten formulieren. Weltweit werden Minderheiten zurückgedrängt. Neue Kulturkämpfe brechen aus, während der selbst ernannte nationale Mainstream sich seiner ethnischen, religiösen und politischen Identität versichert. Doch was bedeutet es wirklich, wenn „das Volk“ plötzlich in unzählbaren Massen, als enigmatische Mehrheit in Erscheinung tritt?

In den Kurzfilmen dieser Ausstellung treten die Künstler „dem Volk“ in jenen Momenten gegenüber, die es entweder feiern oder diese Kategorie gerade erst erschaffen. Das Ergebnis sind unheimliche Bilder und bizarre soziale Studien, Situationen und Anordnungen. Verwischte Fronten treten an die Stelle der klaren Geometrie von rechts und links. Es gibt keinen eindeutigen ideologischen Vektor mehr. Der Kompass ist zerbrochen, und seine Nadel kann in jede Richtung ausschlagen.

So beschrieb der politische Theoretiker Ernesto Laclau den Begriff „des Volkes“ (populo), der den Kern des Populismus ausmachte: als schwebenden Signifikanten, bereit, in diese oder jene Richtung zu tendieren. Laclau bestand darauf, dass diese Offenheit etwas Positives sei. Sie habe der Demokratie wahrhaft universelle Konzepte der Gerechtigkeit und des Guten zu bieten. Doch heute beobachten wir eher das Gegenteil: Die Demokratie wird auf Verlangen der Öffentlichkeit abgeschafft, Mehrheiten werden enigmatisch, unergründlich und bedrohlich, während die Differenz im erstarrten Schweigen des Einvernehmens untergeht.

Im Kontext Europas war es die Französische Revolution, die die ersten Bilder des Volkes hervorbrachte. Eines davon ist Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix, das Cristina Lucas in ihrem Video-Reenactment La Liberté Raisonnée (2009) provozierend neu interpretiert. Das Video, der Prolog der Ausstellung, macht uns zu fassungslosen Zeugen der tragischen Nachwirkungen des revolutionären Ereignisses. In perverser Umkehrung offenbart sich hier die Leere des Begriffs des „Volkes“, dessen Bedeutung unvorhersehbar schwankt.

Dieselbe Leere ist im Zentrum jener Spektakel zu finden, die zur Stärkung des Nationalbewusstseins erfunden wurden. Das kriegerische, antiwestliche, volkstümelnde Reenactment der Eroberung Konstantinopels in Ferhat Özgürs Film über die heutige Türkei (Conquest, 2016) steht in seltsamem Einklang mit Tomáš Rafas Swiss National Day in Rütli (2011), in dem „echte“ schweizer Bürger (und keine Migranten) einen relativ neuen Nationalfeiertag begehen, offensichtlich stolz auf ihre „gesäuberte“ ethnische Eintönigkeit.

Chulayarnnon Siriphols Myth of Modernity, 2014 während der politischen Krise in Thailand gedreht, zeigt den leeren Signifikanten des „Volkes“ im Moment seiner Entstehung. Er schwebt am Himmel als pyramidenförmige, moderne Abstraktion, die zugleich traditionelle buddhistische Andachtsformen repräsentiert, während das Massenerlebnis idealistischen Träumereien weicht. Eine ganz andere Variante enigmatischer Massenerlebnisse vermitteln chinesische Tänzer in Xiao Kes und Zi Hans choreografischer Arbeit Republic of Dance (2016), die vor einem deutschen Publikum mittleren Alters in Weimar aufgeführt und gefilmt wurde.

Wie widersteht man diesen enigmatischen Mehrheiten, wenn sie nicht so harmlos sind wie hier und stattdessen Nationalismus und Verdunkelungstaktiken triumphieren? Eine Antwort bietet Anand Patwardhans aufrüttelnder Ausschnitt aus einem längeren antifaschistischen Film, den er zurzeit produziert. Die Stimme der Vernunft fordert religiöse Fanatiker und Nationalisten dazu auf, das Rad des Fortschritts aufzuhalten; demnach wird das Vernunftdenken siegen, selbst wenn es in der Minderheit ist.

Als Postscriptum zeigt die Ausstellung eine Fotoserie von Anne Arndt, die sich dem unheimlichen Phänomen der „Einmannbunker“ widmet, die in Deutschland während des zweiten Weltkriegs gebaut wurden. Die Traurigkeit und Einsamkeit dieser Schutzräume mitten im Nirgendwo dient als Metapher für die gegenwärtig fragmentierte, neoliberale Menschheit, in der so etwas wie eine Gesellschaft nicht mehr existiert. In neuer Größe schwelgende kollektive Identitäten, völkisch wie imperialistisch, behaupten, diese Aufsplitterung überwinden zu können. Tatsächlich stärken sie diese dadurch nur, indem sie scheinbare, je individuelle, diskursive Bunker für ganze Nationen entwerfen.

Öffnungszeiten:
Do / Fr 15:00-19:00
Sa / S0 14:00-18:00
In englischer Sprache Ort: ACADEMYSPACE, Herwarthstraße 3, 50672 Köln Freier Eintritt